Die Belagerung von Mainz 1792
„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ soll Goethe gesagt haben, nachdem in der berühmten Kanonade von Valmy zum ersten Mal die französischen Revolutionstruppen gegen die Koalition aus Österreichern und Preußen gesiegt hatten. Goethe hatte seinen Weimarer Herzog, der auf Seiten der antirevolutionären Heere Preußens, Österreichs und der Reichsstände an den Kämpfen teilnahm, in die Schlachten begleitet.
Am 21. Oktober 1792 eroberten französische Revolutionstruppen, die zuvor die Pfalz und Rheinhessen besetzt hatten, die kurfürstliche Haupt- und Residenzstadt Mainz, den Sitz des ranghöchsten Kurfürsten und Erzbischofs im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. In Mainz versuchten die Franzosen zusammen mit einheimischen Jakobinern, die Bürger der Stadt ebenso zu revolutionieren wie die Bauern auf dem Lande, um sie mit den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vertraut zu machen. Aus diesen Bemühungen ging schließlich ein Parlament hervor. Der Nationalkonvent „der freien Teutschen“ trat am 17. März 1793 im Mainzer Deutschhaus zusammen.
Dieser Konvent proklamierte am folgenden Tag die Rheinisch-Deutsche Republik zwischen Bingen und Landau und vollzog am 21. März deren Vereinigung mit der französischen Mutterrepublik. Doch die faktische Vereinigung gelang nicht mehr, weil das linksrheinische Gebiet von deutschen Truppen zurückerobert und Mainz einige Monate belagert wurde. Nachdem der Belagerungsring um Mainz am 16. Juni zugezogen worden war, begann eine vierwöchige Kanonade, bei der die allmähliche Verheerung der Stadt von einer „unzählbaren Menge“ von schaulustigen Schlachtenbummlern auf den umgebenden Hügeln aus sicherer Entfernung als „Open-Air-Spektakel“ miterlebt wurde.
Die Belagerung von Mainz ist durch Goethes gleichnamiges fiktives Tagebuch (entstanden 1819 – 1821) ein Stück Weltliteratur geworden. Er beschrieb seine Eindrücke beim Einzug in die zerstörte Stadt:
„Den 26sten (Juli 1793) gelang es uns schon, mit einigen Freunden zu Pferd in die Stadt einzudringen; dort fanden wir den bejammernswertesten Zustand. In Schutt und Trümmer war zusammengestürzt, was Jahrhunderten aufzubauen gelang, wo in der schönsten Lage der Welt Reichtümer von Provinzen zusammenflossen und Religion das, was ihre Diener besaßen, zu befestigen und zu vermehren trachtete. Die Verwirrung, die den Geist ergriff, war höchst schmerzlich, viel trauriger, als wäre man in eine durch Zufall eingeäscherte Stadt geraten. Bei aufgelöster polizeilicher Ordnung hatte sich zum traurigen Schutt noch aller Unrat auf den Straßen gesammelt; Spuren der Plünderung ließen sich bemerken in Gefolg innerer Feindschaft...
Auf unseren Wanderungen fanden wir eine alte Frau an der Türe eines niedrigen, fast in die Erde gegrabenen Häuschens. Wir verwunderten uns, daß sie schon wieder zurückgekehrt, worauf wir vernahmen, daß sie gar nicht ausgewandert, ob man ihr gleich zugemutet, die Stadt zu verlassen.
‚Auch zu mir‘, sagte sie, ‚sind die Hanswürste (gemeint sind die Jakobiner) gekommen mit ihren bunten Schärpen, haben mir befohlen und gedroht; ich habe ihnen aber tüchtig die Wahrheit gesagt: ‘Gott wird mich arme Frau in dieser meiner Hütte lebendig und in Ehren erhalten, wenn ich euch schon längst in Schimpf und Schande sehen werde’. Ich hieß sie mit ihren Narreteien weiter gehen. Sie fürchteten, mein Geschrei möchte die Nachbarn aufregen, und ließen mich in Ruhe. Und so hab’ ich die ganze Zeit teils im Keller, teils im Freien zugebracht, mich von wenigem genährt, und lebe noch Gott zu Ehren, jenen aber wird es schlecht ergehen...“.
1797 wurde auch Mainz wie alle linksrheinischen Gebiete von Frankreich annektiert und als Mayence Hauptstadt des französischen Département du Mont-Tonnerre (benannt nach dem Donnersberg). In Napoleons Feldzügen von 1805 (gegen Österreich und Russland), 1806 (gegen Preußen) und 1809 (wieder gegen Österreich) war Mainz der wichtigste französische Sammelplatz. Die Stadt wurde bald auch zur wichtigsten französischen Festung am Rhein, der „natürlichen“ neuen Ostgrenze Frankreichs. Der Bau der Grande Route Imperiale zwischen Paris und Mainz und die Weiterführung der Straße nach Erfurt, das damals kaiserliche Domäne Napoleons war, verliehen der VIA REGIA in diesen Jahren eine herausragende militärstrategische Bedeutung von europäischer Dimension.