Der Polenkampf am „Kalten Markt“ in Schlüchtern
Nachdem Napoleon 1806 und 1807 Preußen niedergeworfen hatte, gründete er aus den preußisch besetzten Gebieten des aufgeteilten Polen das Herzogtum Warschau, das er dem zum König erhobenen Kurfürsten von Sachsen unterstellte. Sofort schritt Napoleon auch zur Errichtung einer polnischen Legion, deren Elitetruppen die gefürchteten polnisch-nationalen Lanzenreiter waren. Auf allen französischen Schlachtfeldern von Moskau bis Madrid ist von nun an auch polnisches Blut geflossen. Die Regimenter wurden in Polen errichtet und nach Frankreich geführt. Dort wurden sie ausgebildet und erhielten ihre vollständige Ausrüstung, namentlich ihre Lanzen.
Im Herbst des Jahres 1808 befand sich solch ein polnisches Reiterregiment über die VIA REGIA auf dem Marsch nach Frankreich und wurde eskadronweise in den Ortschaften an der Straße einquartiert. So lag mit einem Rasttage eine Eskadron im hessischen Schlüchtern, eine andere im benachbarten Steinau. An diesem Tag fand in Schlüchtern der „Kalle Moatt“ (Kalte Markt) statt. Tausende eilten damals aus der Umgebung der alten Kreisstadt zu. Aus allen Gaststuben drang der Ton der Fidel und der Juchschrei der Tänzer. Bereits an diesem Abend hatten die Polen keine angenehmen Erfahrungen mit den hessischen Burschen gemacht. In der May‘schen Wirtschaft in der Krämergasse hatte es blutige Köpfe gegeben. Am nächsten Morgen rückten die polnischen Soldaten truppweise gegen den Gasthof vor, um Rache zu nehmen. Plötzlich erscholl der bürgerliche Notruf „Bürgerrecht!“ - Flemmings Philipp, ein Jungbursche von riesiger Körperkraft, riss das Fenster auf und rief: „Was ist los?“ Da erscholl der Ruf aufs neue. Nun war kein Halten mehr, aus allen Gassen strömten die Bürger kampfesmutig herbei, bewaffnet mit dem, was ihnen im Augenblick in die Hand kam. Vor dem May‘schen Hause ballte sich die Menge. Die Polen wollten den Wirt, fürchterlich verprügelt, zum Fenster hinauswerfen und nun entwickelte sich unter großem Lärm ein erbitterter Kampf. Vor allem galt es, den Bedrängten zu helfen und die Polen aus dem Hause zu treiben. Da die Wirtsstube nur einen Ausgang hatte, blieb den Polen die Wahl: entweder furchtbare Prügel zu beziehen oder aus dem Fenster zu springen. Schließlich flüchteten sie über den Graben nach der Obergasse – Fuldaer Straße. Der Kommandant war verständig genug und ließ zum Sammeln blasen. Die Reiter warfen sich auf die Pferde und jagten zum Untertor hinaus. Die ganze Stadt war in Aufruhr. Man traute dem Abmarsch nicht: „Gebt acht, sie hole die Steinauer und komme wieder“. Und so war es, doch die Bürger hatten sich vorgesehen: Das Untertor wurde verbarrikadiert, die Mauer an den Gärten wurde voll Steine getragen. Auf und vor der Mauer stand, teilweise sogar mit Schusswaffen versehen, die Bürgerschaft.
Die Polen brachten tatsächlich die Steinauer mit, schwenkten an der Richtscheider Mühle auf die Auwiese und nahmen Stellung. Ein Signal ertönte und plötzlich sprengte ein Schlüchterner Bursche auf einem gesattelten Polenpferd über die Barrikaden zum Tor hinaus, jagte die Front der polnischen Reiter entlang und nahm Stellung im letzten Glied. Alle brachen in lautes Gelächter aus. Der Bursche erklärte dem Major, das Pferd sei stehen geblieben und er habe es dem Regiment zuführen wollen. Der Reiter dazu lag arg verhauen im Hospital. Der Bürgermeister erschien und erklärte, dass bereits am Nachmittag eine strenge Untersuchung des Vorfalls stattfinden würde. Alle Seiten waren jedoch an einer Vertuschung der Ereignisse interessiert, sodass keine weiteren Maßregeln erfolgten. Es war ein Glück, dass es wohl einige blutige Köpfe, aber keine Toten gab. Die folgenden Kriegsjahre sollten nicht so glimpflich verlaufen.
(Quelle: Philipp Lotz „Der ‚Kalte Markt‘ 1808“ in „1000 Jahre Schlüchtern – ein historisches Lesebuch“, herausgegeben von der Stadt Schlüchtern, Schlüchtern 1993)