Der Weg ist das Ziel!
Auf Pilgerwegen quer durch Europa - nach Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela
Wie andere Religionen kennt auch das Christentum die peregrinatio religiosa - das fromme Unterwegssein - zu einem Ort einer
besonderen Heilsvermittlung. Nach dem Apostel Paulus befindet sich ein Christ zeitlebens auf der Pilgerfahrt. Die Stätten des
Wirkens Jesu suchten schon mit der Bibel als Reiseführer in der Hand die ersten Christen auf. Urpilgerstätten wurden zur Zeit
des Kaisers Konstantin der Ort der Kreuzauffindung und die Grabeskirche in Jerusalem sowie des Geburtskirche von Bethlehem.
Die Anerkennung und Verbreitung der Verehrung von Reliquien im weiteren Verlauf des 4. und 5. Jahrhunderts kam dem spätantiken
Ahnenkult entgegen und führte zur Entstehung zahlreicher, auch nichtbiblischer Heiligenkulte mit einem lebhaften Pilgerverkehr
(z. B. zum Hl. Martin nach Tours).
Irische Mönche legten im 7. und 8. Jh. mit ihrer oft lebenslang ausgeübten Pilgerschaft den Grundstein für die Christianisierung
des kontinentalen Europa. Die Entdeckung des Grabes des Apostels Jakobus des Älteren in Nordspanien (Anfang des 9. Jh.) und
die sich daraus entwickelnde Pilgerbewegung standen in einem engen Zusammenhang mit der beginnenden Reconquista
(Rückeroberung Spaniens von den Muslimen) und begründeten einen bis heute ungebrochenen Pilgerverkehr.
Im 11. und 12. Jh. erlebten sowohl der Reliquienkult als auch das Pilgerwesen einen neuen Aufschwung. Nach dem Mord an Thomas
Becket 1170 gelang der römischen Kurie innerhalb weniger Jahre die Etablierung eines gesamtkirchlichen Pilgerzentrums in
Canterbury mit einer Jubeljahr-Tradition seit 1220.
Den Aufschwung des Pilgerwesens haben ferner bewirkt: demographische Faktoren (Bevölkerungsvermehrung seit der Jahrtausendwende),
die Kreuzzüge als eine Form bewaffneter Pilgerfahrten mit umfassenden Ablasserwartungen sowie die Herausbildung einer gut
funktionierenden Infrastruktur entlang den klassischen Pilgerstraßen. Pilgerherbergen und -hospitäler an Pässen, Flussübergängen
und anderen markanten Punkten - geleitet durch Bruderschaften und andere sich neu bildende religiöse Gemeinschaften - boten
armen Pilgern überwiegend kostenlos Unterkunft, Verpflegung und medizinische Betreuung.
Das Kirchenrecht sicherte den Pilgern spezielle Privilegien zu: Angehörige aller Stände unternahmen - nicht selten mehr als
einmal im Leben - Pilgerfahrten, wenn auch nicht immer aus freien Stücken. Während die Pilger im Früh- und Hochmittelalter die
Heiligen ihrer Zielorte um Heilung von Krankheiten und andere Hilfe anflehten, rückte im Spätmittelalter der Erwerb von Ablässen
in den Vordergrund. Neben den drei wichtigsten Pilgerorten Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela entstanden im Verlaufe der
Zeit zahlreiche regionale und lokale Wallfahrtsstätten, die mit jährlicher Regelmäßigkeit aufgesucht wurden.
Auf den oft sehr langen Wegen zum Ziel und wieder zurück nach Hause fanden und finden die Menschen viel Zeit zur Besinnung und
inneren Einkehr. Die Strapazen der Reise wurden und werden auch als eine Form der Reinigung der Seele angenommen. Die Menschen
denken über ihre Probleme und eigenes Fehlverhalten nach und schöpfen neuen Mut und Kraft für ihr künftiges Leben nach der
Bewältigung der beschwerlichen Pilgerreise. Unterwegs bieten sich auch zahlreiche Möglichkeiten der Begegnung mit anderen
Menschen und ihren Schicksalen, seien es Pilger wie sie oder die Bewohner und Gewerbetreibenden in den Wirtshäusern, Herbergen,
Märkten oder Läden entlang ihres mühsamen Weges. Ihr Verhältnis zu Gott und ihr religiöser Glauben werden auf neue Proben und
Fundamente gestellt.
Im Laufe der Zeit bildete sich ein allgemeines äußeres Erscheinungsbild eines Pilgers heraus, dem auch immer mehr Menschen,
die sich auf Wallfahrt begaben, entsprechen wollten. Zu den wohl typischsten Kleidungstücken zählen demnach: ein langer Mantel
oder Umhang, ein Hut oder eine Kappe, ein Gurt oder derber Strick, ein langer Stock, eine Umhängetasche, ein Ranzen oder ein
Mantelsack, geeignetes Schuhwerk sowie eine Flasche (häufig ein ausgehöhlter Kürbis). Auf der Kleidung waren die verschiedenen
Attribute der Pilger bzw. der Hauptpilgerorte angebracht: das (lateinische) Kreuz für Palästina und Jerusalem, gekreuzte
Schlüssel für Rom (Gräber der Apostel Petrus und Paulus), die sogenannte Jacobsmuschel für Santiago de Compostela oder gekreuzte
Pilgerstäbe (z. T. in der Kombination mit der Muschel), die sich auch auf andere Pilgerziele beziehen konnten.
Zu den Schutzheiligen der Pilger bzw. den Heiligen mit Attributen von Pilgern gehören unter anderem: Alexius, Amor, Aurelia,
Birgitta von Schweden, Bona, Coloman (Koloman), Engelmund, Irene, Jacobus d. Ä., Jodok(us), Lucanus, Lucius, Ludanus, Martin
von Tours, Nikolaus von Myra, Paulus, Petrus, Reinildis, Richard, Rochus, Sebald, Wilhelm von Vercelli.
Von den drei Hauptpilgerorten besaß nicht Rom und nicht Jerusalem, sondern das spanische Santiago de Compostela über mehrere
Jahrhunderte hinweg eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf das gesamte christliche Abendland. Entlang der millionenfach
beschrittenen Wege zum Grab des Apostels entstanden Klöster, Kathedralen, Hospize, Wirtshäuser und zahlreiche Stätten des
gewerblichen und sonstigen Austausches. Aus Pilgerwegen wurden Handelswege und umgekehrt und aus dem Jacobsweg mit seinen
zahlreichen Verästellungen - auch bis weit nach Deutschland hinein - eine Hauptschlagader Europas.
Dr. Hans-Jörg Ruge