Die Tradition des Jakobspilgerns
Die erhöhte Mobilität der hochmittelalterlichen Gesellschaft und der ökonomisch-technische Aufschwung förderten seit dem
11. Jahrhundert im Verein mit sozialen und rechtlichen Veränderungen, kirchlichen Initiativen, religiöser Erneuerung, der
Annäherung der spanischen Kirche an Rom und einer besseren Betreuung der Pilger im Hospitalwesen die Entwicklung der
Pilgerfahrt zur Massenbewegung. Im 13. Jahrhundert beherrschte der Pilger das Straßen- und Verkehrsbild im christlichen Westen,
sein Patron Jakobus ist zugleich Pilger und Wegepatron.
In der harten und schmutzigen Wirklichkeit der Straßen fanden die Menschen des 11./ 12. Jahrhunderts die tiefere Bedeutung
ihres Glaubens. Die Menschen des 12. Jahrhunderts haben die großen Reisen leidenschaftlich geliebt, ihnen schien das Leben
des Pilgers das christliche Leben schlechthin zu sein. Denn was ist der Christ anderes als ein ewig Wandernder, der nirgends
zu Hause ist; ein Vorübergehender auf dem Weg zum neuen Jerusalem.
Auch der neue Typ des peregrino caballeresco und der adeligen Reisegesellschaften, für die die Pilgerfahrt einen
angenehmen Zeitvertreib, ein letztes höfisches Abenteuer darstellte, kristallisiert sich jetzt klar heraus. Einen zweiten
neuen Pilgertypus stellten die wohlhabenden Patrizier aus oberdeutschen Städten dar, für die die Pilgerfahrt zum hl. Jakobus
im Rahmen einer Informations- und Bildungsreise stand, bei der nicht selten geschäftliche Interessen vertreten wurden. Aber
vor allem die zahlreichen Strafpilgerfahrten, die als Instrument weltlicher Gerichtsbehörden damals eine ausgesprochene
Blütezeit erlebten, schickten Tausende von größeren und kleineren Verbrechern auf die Pilgerstraßen in Europa. Die Skala
der Verbrechen reicht von Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl bis hin zu Beleidigungen und Schmähungen. Zur Hebung der
Würde des Pilgerwesens hat dies natürlich ebenso wenig beigetragen wie die peregrinatio delegata, die dazu führte,
dass manche Bettler geradezu ein Geschäft daraus gemacht haben, für andere Auftraggeber gegen Lohn Bußfahrten zu tun.
Noch ärgerlicher aber waren die Missstände, die auf den Pilgerstraßen selbst zu beobachten waren. Hier begegneten freiwillige
und unfreiwillige Pilger den Scharen arbeitsloser oder nur saisonbeschäftigter Landstreicher und einer wahren Heerschar
von Bettlern. Eine Unterscheidung der sich aus den verschiedensten Motiven auf der Straße Befindenden wurde immer
schwieriger. Der vielfach zitierte Niedergang der peregrinatio nach Compostela, die Dekadenz der Pilgerfahrt, setzt
hier ein.
Trotz dieser vielfältigen Erscheinungsformen einer materiellen und moralischen Krise war jedoch noch kein "Schwanengesang"
der Pilgerfahrt zum heiligen Jakobus angebracht. Die Krise war zwar tiefgreifend, aber nicht tödlich. Da auch die Kriege,
die Mittel- und Westeuropa so lange erschüttert hatten, im 17. Jarhundert abklangen und die Verkehrswege sicherer wurden,
kann in dieser Zeit erneut ein deutlicher Aufschwung der alten europäischen Pilgerfahrt registriert werden. In ihrer Rückkehr
zur peregrinatio religiosa fand die Santiago-Pilgerfahrt zu einem bescheideneren, aber auch ehrlicheren Charakter
zurück. Im Jahr 1717 kamen bereits wieder so viele Pilger nach Compostela, dass die Zahl der Beichtväter nicht ausreichte.
Die Santiago-Pilgerfahrt erreichte im vorrevolutionären Jahrhundert einen neuen Höhepunkt. Er hielt auf relativ hohem Niveau
bis zur frühen Mitte des 18. Jahrhunderts an.
Am Vorabend der Französischen Revolution war die Santiago-peregrinatio eine zwar nicht mehr spektakuläre, aber immer noch
sehr populäre Erscheinung von beachtlicher europäischer Resonanz. Unberührt von gelehrten Disputen über historische
Hintergründe der Jakobus-Verehrung und dem Gedankengut der Aufklärung, die auch auf Spanien übergriffen, zogen zahlreiche
Pilger nach Compostela. Stadt und Kathedrale präsentierten sich ihnen prächtiger denn je, da die immer noch beträchtlichen
Einnahmen der Kathedrale eine rege Bautätigkeit ermöglichten, die ihren Höhepunkt in der architektonischen Neugestaltung
der Kathedrale fand. Die größte romanische Kirche der Christenheit erhielt in den Jahren 1738 bis 1750 eine imponierende,
zu zwei 70 Meter hohen Türmen emporstrebende Westfassade, die zu den gewaltigsten Schöpfungen des europäischen Barock gehört.
Revolution und Koalitionskriege haben die europäische Resonanz der Santiago-Pilgerfahrten empfindlich beeinträchtigt und
ihren Einzugsbereich erheblich beschnitten. Im europäischen Rahmen fand auch nach 1815 keine Wiederbelebung der
peregrinatio statt, da die wichtigsten Bewahrer und Förderer der Jakobus-Tradition, die Bruderschaften, in den Turbulenzen
der revolutionären und militärischen Ereignisse sang- und klanglos verschwunden waren. Weiterhin reduzierte die Säkularisierung
der Klöster und die Aufhebung und Umwandlung der Herbergen und Hospitäler die Pilgerwege in Westeuropa von einer immer
noch leistungsfähigen caritativen Institution auf einen verkehrsgeographischen Begriff. Die Behauptung ist nicht abwegig,
dass Santiago de Compostela infolge der durch die Revolution ausgelösten geistigen und materiellen Umwandlungen seine
Bedeutung für das europäische Pilgerwesen im 19. Jahrhundert verloren hat.
Während des 20. Jahrhunderts bis nach dem Zweiten Weltkrieg blieb dem – im mittelalterlich-christlichen Sinn geprägten –
Pilger der Weg zum Apostelgrab größtenteils versperrt. Nationaldenken, weltweite Kriege und Krisen, ein Auseinanderdriften
Europas in ideologische Blöcke, die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft und die europäische Isolierung Spaniens
während der Franco-Zeit waren der Pilgerfahrt nach Compostela nicht gerade förderlich.
Erst in unserer Zeit, ab Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, kann man wieder von einer europäischen Dimension der
Pilgerfahrt zum Apostelgrab in Compostela sprechen. In der Pilgerpraxis leben seit dieser Zeit alte Strukturen wieder auf.
Alte Hospitäler in monastischen und religiösen Zentren von Roncesvalles über San Juan de Ortega und Samos bis nach Compostela
werden reaktiviert, neue refugios an allen wichtigen Orten geschaffen. Eine neue Infrastruktur zeichnet sich ab, in ihrer
Fürsorge ähnlich der des Mittelalters und ebenso notwendig sicherlich auch, denn allein auf die touristische Struktur angewiesen
zu sein, ergäbe keinen Sinn. Wobei wir bei der letzten Fragestellung wären: dem Sinn, der dem Nachvollzug einer
mittelalterlichen Pilgerfahrt mit konkretem Ziel im modernen – wie einige meinen – nachchristlichen Europa innewohnt.
Es läuft der 65jährige Museumsaufseher neben dem gleichaltrigen Generaldirektor der Agrarkommission der EU, der
Computerspezialist neben der Fabrikarbeiterin, ein Mitglied der katholischen Jugend neben einem Grünen, der Marineleutnant
neben einem Wehrdienstverweigerer; alle Berufe; alle gesellschaftlichen Gruppierungen vom Kaiserenkel zum jugendlichen
Delinquenten, arm und reich, Frau und Mann, oft sind auch Kinder dabei, fühlen wieder die Faszination des Weges. Die Motive
sind so vielfältig wie die Herkunft, der Beruf und die Nationalität der neuen Pilger. Sportgeist, Heilssuche, psychologische
Reinigung, Sozialhygiene, unbestimmbare Sehnsucht, Bildungsbürgertum, Massentourismus, Mode etc.: es gibt viele Chiffren für
ein Phänomen, das als Kultrelikt, als "Unzeitgemäßes im Zeitgemäßen" alle herkömmlichen Be- und Verurteilungskriterien sprengt.
Zum Schluss noch die Frage: Warum brauchen wir alle, überzeugte Christen oder Säkularisierte, diese europäische Pilgerfahrt?
Der Sternenweg der germanischen Mythologie, der Sternenweg, der Karl dem Großen in der Sage den Weg zum Apostelgrab wies,
der mittelalterliche Heilsweg, der vom Baltikum bis zum Cabo Finisterre, dem Ende Europas, führte, könnte uns helfen, unsere
Identität zu finden und zu verteidigen, unser europäisches Bewusstsein, unsere abendländische Erbschaft zu begreifen und uns
vor dem Verlust unserer Kultur gegenüber einer Verschnittkultur internationaler Prägung bewahren.
(Quelle: Robert Plötz "Pilgerfahrt zum Heiligen Jakobus",
in "Santiago de Compostela", Weltbild Verlag, Augsburg 1998)