Landeskunde von Thüringen: Handel und Verkehr

Landeskunde von Thüringen
Prof. Ernst Kaiser, Erfurt 1933

Handel und Verkehr.

Auf der Entwicklung und Ausbildung der Nationen beruht das Gedeihen des Einzelnen und der Fortschritt der Menschheit. (Friedrich List)

Textmarken:

VIA REGIA Lusatiae
"lange Hessen", "kurze Hessen", "Kinzigstraße"
Süd-Nordverbindung Nürnberg - Erfurt
Wald- oder Leubenstraße, Frauenwaldstraße, Kahlertstraße
Bergstraße von Leipzig über Altenburg
Judenstraße von Leipzig durch das Saaletal


Schon in vor- und frühgeschichtlicher Zeit trat Thüringen als zentrales Durchgangsland hervor. Völkerwellen fluteten seit dem Neolithikum bis in das frühe Mittelalter ein und aus. Handelsverbindungen bestanden seit der Jungsteinzeit zwischen den Ländern an der Ostsee und am Mittelmeer. Jungsteinzeitliche und bronzezeitliche Handelspfade sind durch Einzelfunde selbst aus dem waldreichen Gebirge bezeugt, das die alten Kulturlandschaften Thüringens und Frankens schied. Zwei Fernstraßen bestanden schon in frühgeschichtlicher Zeit, sie haben Thüringen mit den alten Handelsstädten Süddeutschlands und mit den norddeutschen Seestädten, mit Flandern und dem Niederrhein, mit Südwestdeutschland und Frankreich, mit Ostdeutschland, Polen und Rußland verbunden. Das waren die Königstraße und die Handelsverbindung Nürnberg - Hamburg, die sich in Thüringens geographischer und geschichtlicher Metropole Erfurt kreuzten. Die Königstraße, urkundlich 768 und 1252 als VIA REGIA Lusatiae oder strata regia erwähnt, verlief von Frankfurt

  • durch die "langen Hessen“ über Gießen, Treysa, Spangenberg, Waldkappel, Creuzburg nach Eisenach; oder
  • durch die "kurzen Hessen" über Grünberg, Alsfeld, Hersfeld, Berka nach Eisenach oder über Vacha nach Eisenach; oder
  • als "Kinzigstraße" über Gelnhausen, Steinau, Fulda, Hünfeld, Vacha nach Eisenach.

Ihre Fortsetzung nahm sie durch das Hörseltal nach Gotha, Erfurt, über Kerspleben, Buttelstedt, Eckartsberga, Hassenhausen, Kösen, Naumburg, Weißenfels, Lützen nach Leipzig. Bis zum Bau der Steinbrücke bei Kösen (1368-1404) verlief sie über Freyburg a. U., Zeuchfeld, Kayna, Merseburg nach Leipzig.

Eine Beistraße, parallel zur Königstraße, suchte Zoll und Stapelzwang in Erfurt zu umgehen und führte von Eisenach durch das Nessetal über Großenbehringen, Langensalza, Tennstedt, Weißensee durch die Sachsenburger Pforte nach Merseburg oder über Kölleda, Herrengosserstedt nach Eckartsberga und vereinigte sich hier mit der Königstraße.

In die Beistraße mündete in Langensalza die niederländische Straße ein (Niederrhein, Westfalen, Cassel, Eschwege, Wanfried, Eigenrieden, Mühlhausen, Langensalza).

Die große Süd-Nord-Verbindung Nürnberg–Erfurt-Hamburg nahm folgenden Verlauf:

Nürnberg-Bamberg-Coburg-Eisfeld-Schleusingen und weiter als

  • Wald- oder Leubenstraße über Suhl-Oberhof-Wegscheide-Crawinkeler Steiger-Schloß Gleichen-Wandersleben zur Königstraße
  • als Frauenwaldstraße über Schleusinger Neundorf-Frauenwald, wo sich die von Würzburg-Königshofen-Milz kommende Straße mit ihr vereinigte, über Ilmenau -Branchewinda-Egstedt nach Erfurt;
  • oder endlich als Kahlertstraße (erste urk. Erwähnung schon im 8. Jahrhundert) von Eisfeld über Hirschendorf-Hinterrod- Waffenrod-Heubach-Gasthaus Kahlert-Neustadt a. R.-Gehren-Branchewinda-Egstedt nach Erfurt.

Strategische Bedeutung hatte vor allem die Frauenwaldstraße in der Blütezeit der gefürsteten Grafschaft Henneberg erlangt; denn auf ihr sicherten die Henneberger ihre Besitzungen am jenseitigen Gebirgsrand in Ilmenau. Ein anderer Weg verlief von Coburg als "Hohe Straße" über Neustadt-Sonneberg-Steinheid und mündete in die Kahlertstraße ein. Auch über den nordwestlichen Thüringer Wald führte eine Reihe von "Waldstraßen", die die Frankfurter Straße mit dem Werratal verbanden, um von hier aus durch die Rhön die Frankfurter Straße wieder zu erreichen: die Weinstraße, die von Salzungen über Gumpelstadt-Hohe Sonne nach Fischbach führte, die Schweinaer oder Altensteiner Straße von Salzungen über Immelborn, Schweina, Waltershausen nach Gotha, die Brotteröder Straße von Breitungen über Brotterode, Cabarz, Tabarz, Waltershausen nach Gotha und endlich die Wege von Schmalkalden nach Friedrichroda und von Schmalkalden nach Tambach. Alle diese Gebirgsstraßen suchten vom Werratal aus (Salzungen oder Wernshausen) Anschluß an die Frankfurter Straße, oder sie .führten über Meiningen nach Nürnberg. Die Meinboldesstraße verband Ohrdruf und Meiningen. Sie wird zwar erst 1168 erstmalig erwähnt, muß aber doch viel älter sein, denn Bonifatius mag sie schon gezogen sein, als er im 8. Jahrhundert das Kloster Ordorp (Ohrdruf) gründete. Ihren weiteren Verlauf nahmen die von Süden kommenden Wege von Erfurt aus unter Umgehung der großen Riedflächen Innerthüringens und unter Benutzung der wenigen Furten von Wundersleben, Günstedt und Kindelbrück über Weißensee, der zwischen Seen und auf fernsichtigem Hügel gelegenen und zur Beherrschung der hier sich kreuzenden Casseler und Erfurter Straße wie geschaffenen Burgsiedlung, durch die Sachsenburger Pforte nach Sangerhausen und Magdeburg. Oder sie führten über Schloßvippach - Kölleda - Harraser Engpaß - Oberheldrungen - Allstedt nach Eisleben oder über Kühnhausen - Tennstedt - Greußen - Sondershausen nach Nordhausen und trafen die den großen Talzug des nördlichen Thüringens benutzende Straße Halle - Cassel oder über Gräfentonna - Langensalza - Mühlhausen - Kreuzeber - Heiligenstadt - Göttingen nach Bremen bzw. über Duderstadt nach Hildesheim und Braunschweig.

Auf den alten Handelsstraßen verkehrten Jahrhunderte hindurch friedliche Handelszüge, die Kolonialwaren, Fische und Wein nach Thüringen brachten, in reichem Maße „Thüringer Artikel", Erzeugnisse seiner vielseitigen Industrie: Schmalkalder Kurzwaren, Suhler Waffen, Ruhlaer Messer und Pfeifenköpfe, Thüringer Glas, Sonneberger Spielwaren, Schiefertafeln und Griffel weithin verfrachteten. So wurden die Straßen, an denen zahlreiche Fuhrmannsdörfer aufblühten, zu einer Quelle des Wohlstandes für das Land. "Hauptmarkt des Landes für Nahrung und Getränk, Kleidung und Gerät" war Erfurt, das Verkehrszentrum im mittelalterlichen Wegenetz, die „Mitte der Mitte" .

zurück zur Übersicht


Der Humanist Nicolaus von Siegen konnte von ihr sagen: „Ganz Thüringen nährt und wärmt sich aus Erfurt." Da kamen zu Beginn der neuen Zeit die großen Umwälzüngen und „die Umkehrung der Welthandelswege" mit der Auffindung des Seewegs nach Ost-Indien. Die süddeutschen Großhandelsplätze verloren ihre Bedeutung. Auch Erfurt mußte seine handelspolitische Bedeutung an die Messetadt Leipzig abtreten. Den Niedergang Erfurts hatten aber auch die thüringischen Landesfürsten mit verschuldet, die ihre kleinen Territorien zu Wirtschaftsgebieten und ihre Haupt- und Residenzstädte zu Handelsmittelpunkten machen wollten und darum mit Zollschranken umgaben, sodaß der thüringische Durchgangshandel ungemein erschwert wurde. Mit dem Aufkommen Leipzigs als Messestadt wurden die durch Ostthüringen führenden Handelswege belebt: die Bergstraße von Leipzig über Altenburg durch das Vogtland über Plauen nach Hof, über Münchberg-Gefrees-Berneck und weiter nach Bayreuth und Nürnberg; die Judenstraße von Leipzig durch das Saaletal bis Saalfeld, über Arnsgereuth - Reichmannsdorf - GräfenthaI - Kalte Küche - Judenbach - Köppelsdorf - Oberlind - Neustadt - Coburg -Bamberg nach Nürnberg. Die Nebenstraße Hof - Gefell - Schleiz - Auma - Gera - Zeitz - Zwenkau - Leipzig wurde im 17. Jahrhundert und ebenso die Straße Leipzig - Gera - Schleiz - Saalburg - Lobenstein -Nordhalben - Kronach - Lichtenfels - Bamberg - Nürnberg
zu einer Hauptstraße. Von Bedeutung war zeitweise auch eine Querverbindung der Leipzig - Nürnberger Straße: Saalburg - Schleiz - Pößneck - Kahla. Die alten Wege waren auch die Poststraßen für die reitenden und fahrenden Posten. Regelmäßige Postkurse wurden erst seit der Mitte des 16..Jahrhunderts eingerichtet; 1651 Erfurt-Nürnberg, 1683 Leipzig-Nürnberg, 1687 Saalfeld-Coburg. Eine Besserung für den thüringischen Handel brachten die Gründung des thüringischen Zollvereins im Jahre 1833 und der Anschluß an den deutschen Zollverein. Je mehr dann Thüringen im Zeitalter der Eisenbahn durch Schienenwege erschlossen wurde, um so mehr verödeten die alten Handelswege und verarmten die Fuhrmannsdörfer an ihnen. Aber der Anschluß Thüringens an das moderne Verkehrsliniennetz war ein Glück für die industriereichen Landschaften, in denen die Rohstoffbasis sich mehr und mehr verschmälert und die Steinkohle die Holzkohle verdrängt hatte. Hier konnte nur die Eisenbahn die Industrie halten, denn sie ermöglichte eine Produktionssteigerung, verfeinerte die Erzeugnisse durch Bezugsmöglichkeiten ausländischer Rohstoffe, verbilligte obendrein diese in der Qualität gestiegenen Produkte und erhöhte dadurch allgemein die Bedeutung der Standorte.

Ein Blick auf das thüringische Eisenbahnnetz läßt erkennen, daß die Eisenbahnen im allgemeinen den Hauptrichtungen der alten Wege folgen, wenn sie auch im einzelnen manchmal beträchtlich von ihnen abweichen, weil die Bahn weit mehr von den orographischen Verhältnissen abhängig ist. Schon Friedrich List hatte darauf hingewiesen, daß man bei der Anlage neuer Verkehrsmittel nicht die alten Straßen des Handelsverkehrs verlassen dürfe, an denen die Kultur zur hohen Blüte gelangt sei. Wie im Mittelalter die großen Handelswege, so durchziehen heute die kontinentalen Eisenbahnhauptlinien das Thüringer Land, für die die vielen Klein- und Nebenbahnen die Zubringerlinien sind. Dem alten Königsweg entspricht die Thüringer Bahn, die 1847 eröffnet worden ist. Sie ist die Hauptschlagader des Verkehrs in Thüringen. Auf ihr verkehren täglich 11 D-Zugspaare, teils von Leipzig, teils von Berlin, das sind 32% des Gesamtdurchgangsverkehrs von Ost nach West im mittleren Deutschland.

zurück zur Übersicht